Lie Selter – Pionierin der kommunalen Gleichstellung

Interview Lie Selter

Köln, 11.12.2023

Ich besuche Lie Selter in ihrer hellen und freundlichen Wohnung in der nördlichen Kölner Innenstadt. Bei Kaffee und Keksen kommen wir schnell in ein interessantes Gespräch über sie, ihr Leben, ihre politische Entwicklung und viele spannende Details ihrer Zeit innerhalb und außerhalb der SPD.

Lie ist 1951 geboren, seit 2016 Rentnerin „und seit einem halben Jahr verheiratet“ , sagt sie zu Beginn.

Dann plaudert sie über ihr „erstes Leben“, wie sie es nennt. In Dortmund geboren ist sie ein Ruhrgebietskind: ihr Vater war Bergmann, ihre Mutter Hausfrau, wie es zur damaligen Zeit üblich war. Mit ihrem Vater, der natürlich Mitglied in der SPD war, ging sie sehr früh auf Demonstrationen. Als Arbeitertochter war ihr Weg vorgezeichnet. Nach der Volksschule mit Ende 13 wechselte sie in die Städtische Bildungsanstalt für Frauenberufe. Die Mutter hatte zunächst die einjährige Haushaltsschule für sie ausgewählt, sie bleibt aber insgesamt fünf Jahre dort, denn die Lehrerinnen erkennen ihr Talent für mehr. Über den dort angebotenen zweiten Bildungsweg wird sie Erzieherin. Mit 19 macht sie das „Anerkennungsjahr“ und fährt mit ihrem eigenen Fiat 500 nach Köln, das sie sofort als „Meine Stadt“ erlebt, wie sie formuliert. Sie nimmt eine Stelle an im Kinderladen der Pädagogischen Hochschule im Weyerthal und wohnt zunächst  in der Kölner Südstadt in der Nähe des Chlodwigplatzes. Jusos und DKP tummeln sich dort in den Kneipen, wie sie es darstellt. In der Bottmühle nimmt sie an marxistischen Arbeiterschulungen teil, liest aus dem Kapital und diskutiert nächtelang mit Leuten, mit denen sie immer wieder in ihrem Leben Kontakt haben wird. Schließlich tritt sie in die SPD ein.

Ihr „zweites Leben“, wie sie sagt, beginnt mit dem Einzug in eine Wohngemeinschaft und mit dem Studium. Es war die Zeit Willi Brandts, der Bildungsreformen und der „Ausschöpfung der Bildungsreserven“ (ein Schlagwort, das auch heute wieder Sinn machen könnte). Norbert Burger war es, der ihr  den Weg zum Studium aufzeigte. Alle ihre Freundinnen studierten damals, nur sie arbeitete. An der Fachhochschule Köln war es die Dozentin Maria Mies, die sie während ihres Studiums von 1973 bis 1976 „frauenpolitisch fit gemacht hat“ (Zitat Lie S). In Seminaren und auch Selbsterfahrungsgruppen begegnet sie vor allem vielen interessanten Frauen, mit denen sie aktiv die drängenden gesellschaftlichen Probleme angeht: So sammelt sie 1975 auf der Schildergasse Unterschriften für ein erstes Frauenhaus in Köln. Lie: „ Das Faszinierende war, dass innerhalb kürzester Zeit über 1000 Unterschriften zusammen kamen. Die Kölner Frauen hatten anscheinend darauf gewartet, dass sich jemand dieses Themas annahm.“ Beeindruckt hatte den Kreis um Maria Mies das Buch „Schrei leise“ von Erin Pizzey, in dem über Misshandlungen in der Familie und über das erste Frauenhaus in London berichtet wird. Der Verein „Frauen helfen Frauen“ wird 1976 gegründet, den auch die Frauen aus der SPD mittragen. Sie waren motiviert, besonders für Frauen und Kinder politisch einzutreten.

Lie berichtet voll Begeisterung von Maria Mies, ihrer Professorin an der Fachhochschule. Durch sie „lernten etliche Studentinnen die Erste Frauenbewegung kennen und viele weitere Frauenthemen und -namen, die mit geschichtlichen Ereignissen verbunden waren. Es dauerte nicht lange und wir Studentinnen erlebten damit eine eigene weibliche historische Identität, Inspiration und  großen Zusammenhalt“ (LS).

Es begann die Zeit der Gründung von zahlreichen Frauenprojekten unterschiedlichster Art. „Frauen helfen Frauen (1976), verschiedene Beratungsstellen, die erste Feminale (1984), der Frauen-Geschichtsverein (1986), das Handwerkerinnenhaus (1989), das Mädchenhaus (1991), internationale Frauenbewegungen sind nur einige beispielhafte Stichworte. Seit den 70er Jahren waren deren Impulse auch auf die Parteien und Gewerkschaften übergeschwappt, was wiederum die autonomen Frauenprojekte unterstützte.

Lie Selter wohnte in der Wohngemeinschaft in der Worringer Straße im „Türmchenhaus“. Aus der Not heraus wurden hier die ersten hilfesuchenden Frauen untergebracht. Um das Projekt „Frauenhaus“ in Köln zu realisieren, wurde zunächst ein Haus in Dellbrück besetzt. Viel war zu tun während des Studiums, Lie war offensichtlich immer auch „mitten im Leben“, nicht nur in den Büchern. Nach  dem Examen dann  nahm Lie Selter eine Stelle bei der AWO in der Südstadt an. 1979 wurde ihre Tochter geboren. Bald darauf suchte die Stadt Köln eine erste Gleichstellungsbeauftragte  – und das „dritte Leben“ von Lie Selter begann. Von 1982 bis 2000 war sie 18 Jahre lang Leiterin des Frauenamtes / Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Köln. Sie war eine der ersten in ganz Deutschland, was für sie auch häufiges Reisen bedeutete, denn viele wollten von ihrem Wissen, ihrer taktischen Erfahrung und ihrem Geschick in frauenpolitischen Entwicklungen profitieren ( In dieser Zeit lernte auch ich Lie Selter kennen und lud sie in die Bezirksregierung Köln ein, in der ich am Aufbau der Gleichstellungsstrukturen für die Schulabteilung und Lehrerfortbildung  konzeptionell beteiligt war). Zusammen mit den Frauen aus der SPD, im Stadtrat und ASF und den autonomen Frauenprojekten wurden zahlreiche Themen in Angriff genommen. Lie Selter war direkt beim Oberstadtdirektor (1977 – 1989 Kurt Rossa) angesiedelt, niemand dazwischen war weisungsberechtigt. Es wurden die „10 Aufgaben der Stadt Köln“ zusammengestellt, die Bestandteil des Ratsbeschlusses vom September 1981 waren (siehe Anhang). 18 Jahre wohnte sie im Stollwerck-Gelände in der Südstadt. Zahlreiche Vorträge hat sie in dieser Zeit gerade auch in der SPD gehalten. Viele Veranstaltungen wurden mit unterschiedlichen Frauengruppierungen durchgeführt, besonders auch mit der ASF. Vor allem in Erinnerung geblieben ist ihr dabei die „Frauen-Stadtkonferenz“ im Stadtgarten, die anlässlich des 15-jährigen Bestehens des Frauenamtes 1997 stattfand. SPD-Frauen aus dem Stadtrat waren dabei, ganz viele aus der ASF.

Die ASF verdankt Lie Selter zahlreiche Impulse und Kooperationsangebote in einer Zeit, in der der politische Blick auf die Situation von Frauen in einer Verwaltung wie der Stadt Köln noch in keiner Weise selbstverständlich war. Die Zusammenarbeit von Lie und den aktiven Frauen in der SPD führte zu vielen synergetischen Ergebnissen. Die ASF verlieh Lie Selter daher Mitte der neunziger Jahre die Rosa-Luxemburg-Medaille für besondere Verdienste zugunsten der Frauen in der Stadt, 2001 dann die Ehrenurkunde der ASF. Ilse Ridder-Melchers verlieh ihr 1998 das Bundesverdienstkreuz.

Nach dem Sieg der CDU bei den Bürgermeisterwahlen 2000 wurden nahezu alle wichtigen Amtsleiter in unwichtigere Posten versetzt. Lie Selter gehörte auch zu diesem „Personalkarussell“.  Am 18.1. war die große Abschiedsfeier für die erste Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Köln, für die Leiterin des Frauenamtes – ein frauenpolitisch historisches Ereignis… Ab dem 1.1.2001 wurde Lie Leiterin des Bürgeramtes Kalk. Ihr „viertes Leben“ hatte begonnen.

Der Wind in Köln drehte weiter, nach vier Jahren war diese Tätigkeit in Kalk wieder zu Ende, die mit intensiver Einarbeitung gefüllt gewesen war. Lie wurde Direktorin der städt. Kinderheime (bald unbenannt in „Kinder- und jugendpädagogische Einrichtung der Stadt Köln – Ki d S“) mit Sitz in Köln-Sülz. Dazu gehörte und gehört auch die große Einrichtung in Köln-Brück und zahlreiche Wohngruppen über das ganze Stadtgebiet verteilt. In dieser Position hat sie mit ihrem Elan über Verkauf und Neubau für Kölner Verhältnisse unvergleichlich schnell ein neues Gelände für die Zentrale vorangetrieben und sichergestellt. 2014 wurde sie dann schließlich mit 63 Jahren Leiterin des Amtes für Personal und Innovation bei der Stadt Köln, ihr Traumjob für zwei Jahre, wie sie formuliert. Es war der „Traumjob“, weil sie innerhalb der 18 Jahre Frauenamt so viel Einblicke insbesondere in das Personalgeschehen gewonnen hatte, dass sie gerne ihre  Erkenntnisse zum Wohle der Stadt Köln in diesem Bereich einbringen wollte.

2016 war dann das Leben in der Berufswelt zu Ende – ein neuer Abschnitt begann.

Immer noch ist Lie Selter viel unterwegs, hält Vorträge und beobachtet wachsam die Entwicklung der gesellschaftlichen Lage der Frauen. Unter anderem ist ihre Biographie auch Bestandteil des Kölner Frauen*Stadtplans, der die berühmten, aktiven und leistungsstarken Frauen in Politik und Gesellschaft erfasst. *

Lie, was war dein größter Erfolg?

Das waren die 18 Jahre Durchhalten als Gleichstellungsbeauftragte bei der Stadt Köln. Der Anfang war steinhart. Es ging ja nicht nur um Lie, nicht nur um Köln, es ging um alles bundesweit: Die Frauen sollten und wollten gesehen werden.

Zu Beginn der autonomen Frauenbewegung (Ende der 60er Jahre: z.B. der „Tomatenwurf von Frankfurt 1968) wurde deutlich: Die Männer hatten bis dahin eine Politik gemacht, die die Frauenrechte völlig außer Acht gelassen hatte.

Politisch am beeindruckendsten findet Lie, dass die ASF und die autonomen Frauenbewegungen um 1983  gemeinsam sehr viel Öffentlichkeit, d.h. Aufmerksamkeit auch in der Presse zustande gebracht haben. Ein gewisser Herr Kleefisch meinte : „Der Schritt ins Matriarchat ist getan.“ Ungeheuer viele Leserbriefe begleiteten die Ereignisse.

Viele der Fragen reichen bis in die Gegenwart – unbeantwortet! Oder halb beantwortet…

Zum Beispiel: Bis wann konnte der Mann den Arbeitsvertrag der Frau kündigen? (1977!!) Was bedeutete die „Hausfrauenehe“ für die Frauen? Was erzählt die Geschichte des Ehenamens? (erst 1991 !! frei). Was war /ist mir Paragraf 218? Was ist mit Bildung und Ausbildung der Mädchen? Was ist mit Altersarmut der Frauen? Was ist mit gleichem Lohn? Was ist mit Alleinerziehung? Mit Familie und Karriere?

Die Fragen  stammen alle aus der damaligen Zeit. In den 70ern und 80ern gingen die Augen auf. Und es zeigte sich, dass Demokratie und Gleichberechtigung (wie es damals hieß)  auf einem Auge blind oder zumindest getrübt gewesen war. Da war viel zu tun! Damals entstand dann auch die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen in der SPD.

Lie, was ist frauenpolitisch erreicht worden?

Naja, anfangs ist das alles lächerlich gemacht worden. Und die Realität war gegen die Frauen konstruiert, siehe zum Beispiel die unglaublichen Ehegesetze von damals.

Aber von Jung auf bestand Lies Prinzip aus zwei Schritten: „Missstand analysieren – darum kümmern!“

Und auf diese Weise wurde ganz langsam feministische Frauenkultur und ein neues Rechtsbewusstsein geschaffen. Vieles, was damals undenkbar war, ist heute normal. Doch das muss noch viel weiter gehen. Es bleibt noch reichlich zu tun, bevor die Gleichstellung verwirklicht ist (so Lie S).

Lie nennt vor allem drei Punkte, die wesentlich für die Zukunft sind :

Das ist zum einen die frühe Kinderbetreuung und ein nicht nur bildungsstarkes, sondern auch familienkompatibles  Schul- und Betreuungssystem, das ist zum zweiten die Unterstützung von Frauen und Kindern bei Gewalt, und zum dritten die Aufgabe, Frauen zu qualifizierter Arbeit zu führen. Gerade im letzten Punkt sieht Lie zur Zeit eine große historische Chance: Der Fachkräftemangel wird dazu beitragen, dass auch Frauen und Mädchen mehr gute Chancen als früher in der Berufswelt bekommen können. Sie müssen dieses Zeitfenster sehen und nutzen. Da liegt eine wichtige Gegenwartsaufgabe auch für Frauengruppierungen wie die SPD Frauen.

Was erwartet bzw erhofft Lie für die Zukunft?

„Die Frauenbewegung darf nicht einschlafen.“

Auch die jüngeren Frauen müssen verstehen, dass weiter gekämpft werden muss. Da besteht eine gewisse Angst, dass vieles von der jungen Generation als selbstverständlich genommen wird. Das wäre gefährlich. Denn die „Machos“ sind nicht ausgestorben – als Beispiel kann hier die aktuelle Problematik der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz gesehen werden.

Lie erinnert daran, dass viele Pionierinnen der Frauenbewegung sich „schon immer für wenig Geld und mit viel Engagement“ für andere Frauen und Familien eingesetzt haben.

Und , was auch Maria Mies, ihrer Mentorin, wichtig war: „Sie haben die Grundlagen des Patriarchats angekratzt“.

 

Worauf ist Lie stolz?

Als erstes auf´s Durchhalten in den Themen, Fragen, Problemen  der Gleichstellung. Auf das, was sie dabei gelernt hat und was mit vielen zusammen geschaffen wurde. Und auf die vielen Freundinnen und Freunde, die sie dadurch gewonnen hat.

Lie, vielen Dank für das Gespräch!                            Das Interview führte Monika Kirfel

Anhang:

Beschluss Rat Gleichstellungsstelle 1981

*Der Kölner Frauen*Stadtplan ist ein Kooperationsprojekt der Stiftung Frauen*Leben in Köln mit dem Kölner Frauen-Geschichtsverein und dem Amt für Gleichstellung der Stadt Köln.